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Digitalisierung Über Lesezirkel im Netz und gemeinsames Lesen
Lesen hat etwas von Magie. Konzentriertes Lesen erweitert die Erfahrungswelt und eröffnet Wahrnehmungsräume, die in Wirklichkeit verschlossen bleiben. Leser erfahren mehr, als ein einziges Leben zu bieten vermag, oder mit einem Wort von Henri Michaux: «Wer hatte, in seinem ganzen Leben, auch nur zehn Tigersekunden?» Dafür wenden sich Leser von ihrer Umgebung ab und liefern sich ganz der Lektüre aus, wie es Paul Verlaine mit einem Sprachspiel auf den Punkt gebracht hat: «Tout de même on se livre.». Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Leserinnen und Leser in Bussen und Zügen dem öffentlichen Tumult derart die Stirn bieten.
Auch Peter Bichsel ist ein solcher Leser, der Zeit und Musse für seine Lektüre verwendet. Als er freilich einmal gefragt wurde, welches Buch er denn auf die einsame Insel mitnehmen würde, gab er überraschenderweise zurück: «Ich würde auf jene Insel kein einziges Buch mitnehmen, denn (...) ich muss zum mindesten mitteilen können, dass ich gelesen habe.»
Lesen ist demnach auch eine soziale Geste. Über Bücher muss man reden. In analogen Zeiten gab es dafür Lesegesellschaften und Lesekreise. Zu einem Pendant in der digitalen Welt könnten die neu entstehenden online-Lesesäle und -salons werden. 2014 hat die Süddeutsche Zeitung probeweise einen solchen Salon eröffnet, aktuell experimentiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung damit. Ihr Lesesaal findet sich auf den Webseiten von sobooks.de. Wer sich eingeloggt und ein angebotenes Buch ausgewählt hat, kann Textstellen markieren und Kommentare hinzufügen, die von anderen Lesern wiederum kommentiert werden können. Allerdings steht nur eine Textprobe zur freien Verfügung, wer mehr lesen möchte, muss das e-Book kaufen – die Hardcover Ausgabe zuhause hilft nicht weiter.
Die Probe aufs Exempel mit Jenny Erpenbecks «Gehen, ging, gegangen» demonstriert gleich eingangs die Problematik eines solchen Lesesaals. Ist es diskursiv hilfreich, wenn Textstellen mit einem «Was für ein miserabler Anfang» oder «Der Prol sagt...» kommentiert werden? Im Privaten klingt derlei vielleicht vertraulich – in der Öffentlichkeit aber wirken solche Einwürfe schnell übellaunig, besserwisserisch und nervtötend. Zwar rücken Kommentare zu den Kommentaren den Sachverhalt umgehend zurecht, dennoch droht das Textganze schnell aus dem Blick zu geraten.
Es bedarf also noch der Übung mit solchen Tools. Die Öffentlichkeit hat den Vorteil, dass neue Menschen hinzustossen, aber den Nachteil, dass wir unsere Gesprächspartner nicht aussuchen können. Zur Pflege des diskursiven Vertrauens ist gerade dies aber oft wünschbar. Wie auch immer, die Sache kann noch interessant werden.
PS: Eine private Option bietet weiterhin das technisch nicht optimierte Socialbook an, das die Einrichtung von Gruppenlektüren erlaubt.
Dieser Beitrag wird geteilt mit dem Blog «Observatory of European Contemporary Literature» auf den Seiten von ELiT – Literature House Europe.
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