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Visionen Literarische Qualität wird immer zuerst an den traditionellen ästhetischen Normen gemessen, uneingedenk dessen, dass genau diese Normen sich laufend wandeln und verschieben
In den 1990er Jahren wies Hyperfiction neue Wege in die literarische Zukunft. Mark Amerikas «Grammatron» erzählte eine Golem-Geschichte in kurzen, miteinander verlinkten Texttpartikeln, die alternative Erzählwege zur Lektüre anboten. Doch der Trend währte nur kurz, die neuen Erzählformen fanden kaum Akzeptanz bei der traditionellen Literaturkritik. Was heute davon übrig geblieben ist, ist die Klage, dass Hyperfiction es nicht geschafft habe, relevante Werke hervorzubringen.
Mag der Vorwurf auch stimmen, ungerecht ist er dennoch. Zum ersten werden dabei 500 Jahre Buchkultur mit 20 Jahren digitaler Ästhetik abgeglichen. Zum zweiten gründet der Vorwurf auf normativen ästhetischen Vorstellungen, die sich zum dritten oft mit der Unkenntnis darüber verbinden, was im Internet in den Grenzbereichen von Literatur und Kunst entsteht. Genau ein solches Projekt ist das Webuniversum «Désordre» des Franzosen Philippe de Jonckheere.
Jonckheere, ursprünglich Graphiker und Fotograf, schreibt und arbeitet seit 2000 an einem längst unüberschaubaren Konvolut an Text- und Bildbeiträgen, das die Unordnung zum Titel wie zum Prinzip hat. Der Form nach protokolliert es den Alltag des Autors und Künstlers. Er erzählt, was er tut, womit er sich befasst, wohin er reist. In den letzten 15 Jahren haben sich rund 250'000 Dokumente (Texte, Fotos, Videos und Sounds) angesammelt, die verschiedenen Rubriken zugeordnet sind. Darunter finden sich auch spielerische Applikationen wie eine Serie von Reisefotos, die von den Besuchern ihrerseits als Mailpostkarte verschickt werden können.
Konsequent expandiert Désordre in einen multimedialen Erzählraum, der unendlich viele Weg für die Lektüre offen hält. „Unendlich“ im Wortsinn, denn als primäres Gestaltungsprinzip gilt der Zufall. Désordre entzieht sich einer planmässigen Lektüre, selbst der Autor weiss nie mit Sicherheit, welchen Erzählstrang er auf der Homepage anklickt. In einer jüngst verfassten «Gebrauchsanweisung»* schreibt Jonckheere: «Von Anfang an, schon beim Planen und Entwickeln der Website Désordre war eines der Gestaltungsziele, den Besucher in die Irre zu führen, indem sämtliche Gattungsregeln in Bezug auf die Navigation bewusst gegen den Strich gebürstet wurden.» Erreicht wird dies, indem die Navigation ganz dem algorithmischen Zufall überlassen bleibt. Für diesen freilich ist die informationstechnisch strukturierte Webseite «ein Wunder an Aufgeräumtheit».
Die Kritik wird sich eiligst auf das Zufällige der Rezeption stürzen und die daraus resultierende Beliebigkeit als unliterarisch taxieren. Doch was ist mit der Serendipity, mit der Aberration als Quelle für die erzählerische Phantasie?
Solche und ähnliche Projekte erfahren heute dieselbe Abfuhr durch die Kritik wie vor hundert Jahren beispielsweise ein James Joyce. Vielleicht hinkt der Vergleich, aber die literarische Qualität wird immer zuerst an den traditionellen ästhetischen Normen gemessen, uneingedenk dessen, dass genau diese Normen sich laufend wandeln und verschieben. Könnte es also nicht sein, dass Philippe de Jonckheeres Schrift im Raum auch neue ästhetische Vorstellungen hervorbringt, mit denen sie dereinst erst gültig beurteilt werden kann?
Philippe de Jonckheeres umfassendes, schillerndes Projekt «Désordre» ist auf jeden Fall eine Herausforderung. «In gewisser Weise», schreibt der Autor, «ist die ganze Arbeit von Désordre weniger das Werk ihres Autors als dasjenige des Zuschauers, Zuhörers, Lesers, Besuchers. Désordre ist die Internetseite, deren Autor Sie sind.» Es realisiert, wovon theoretisch schon längst die Rede ist. (bm)
* De Jonckheeres Beitrag findet sich in einer Broschüre abgedruckt, die im Rahmen eines Zukunftsateliers Literatur an den Solothurner Literaturtagen erschienen ist. Seinen Aufenthalt in Solothurn hat er im Kapitel "Solo dans ma thurne à Solothurn" festgehalten.
Dieser Beitrag wird geteilt mit dem Blog „Observatory of European Contemporary Literature“ auf den Seiten von ELiT - Literature House Europe.
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